FaFin: Walter, Du bist Informatiker und warst lange Zeit im Software-Bereich tätig. Wie kam es, dass Du begonnen hast, Dich mit Fragen eines fairen und nachhaltigen Geld- und Finanzsystems zu befassen?
Walter Kern: Auslöser dafür waren die globale Finanzkrise 2008 und die Eurokrise 2009. Ich wollte die Zusammenhänge verstehen, merkte aber schnell, dass mir die Grundlagen fehlten. Um diese zu erwerben, begann ich 2009 ein berufsbegleitendes Aufbaustudium an der Frankfurt School of Finance & Management.
Während des Studiums wurde mir klar, dass – auch nach den Maßnahmen zur Stabilisierung des Bankensystems und den Reformvorschlägen der G20-Staaten – noch erheblicher Handlungsbedarf besteht. Wenn wir Nachhaltigkeit ernst nehmen, braucht es eine Neuausrichtung des bestehenden Geld- und Finanzsystems. Dabei muss dieses wieder auf seine dienende Funktion zurückgeführt werden, die vor allem darin besteht, notwendige langfristige Investitionen zu ermöglichen, statt sich auf kurzfristige Gewinnmaximierung zu konzentrieren.
Aus diesem Grund beschäftigte ich mich seit 2011 auch nebenberuflich als freier Finanzdienstleister mit nachhaltigen Geldanlagen, zunächst mit der Finanzierung der Energiewende und später mit nachhaltigen und verantwortungsvollen Geldanlagen im Allgemeinen.
FaFin: Einer Deiner Schwerpunkte ist die Nachhaltigkeits-Berichterstattung. Was sind hier aktuelle Themen, mit denen Du Dich befasst – auch vor dem Hintergrund der derzeitigen politischen Entwicklungen?
Walter Kern: Bei der Auswahl geeigneter Produkte für nachhaltige Anlagen ist die Beschäftigung mit Nachhaltigkeits-Berichterstattung zwingend erforderlich. Ohne die entsprechenden Informationen ist die Auswahl schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Bis in die 2010er Jahre gab es kaum ernsthafte Nachhaltigkeits-Berichterstattung. In Unternehmen war das Thema, wenn es überhaupt existierte, oft Teil der Marketing- oder PR-Abteilung und es wurde rein freiwillig und sehr selektiv berichtet.
Dies änderte sich dann mit der EU Non-Financial Reporting Directive (NFRD), die seit 2017 eine Berichtspflicht für große, kapitalmarktorientierte Unternehmen vorschreibt. Doch erst der EU-Aktionsplan zur Finanzierung nachhaltigen Wachstums und der EU-Green Deal mit der Sustainable Finance Disclosure Regulation (SFDR), der Taxonomie-Verordnung und der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) haben für ordentlich Bewegung in diesem Bereich gesorgt. Leider sollen Letztere nun bereits untergraben werden, bevor sie ihre volle Wirkung entfalten können.
Sicherlich haben sich durch die parallelen Gesetzgebungsverfahren und die Entwicklung der europäischen Nachhaltigkeitsberichtsstandards unter großem Zeitdruck Überschneidungen und Inkonsistenzen eingeschlichen, die es zu beseitigen gilt. Was derzeit jedoch unter dem Vorwand des Bürokratieabbaus mit dem Omnibus-Vorschlag der EU-Kommission geplant ist, hat eher mit Deregulierung zu tun.
FaFin: Der Klima- und Umweltschutz sowie Bemühungen um soziale Gerechtigkeit haben zurzeit einen besonders schweren Stand. Bereits Erreichtes droht immer weiter rückabgewickelt zu werden. Welche Handlungsoptionen siehst Du in dieser Situation, um weiter etwas im Sinne der sozial-ökologischen Transformation bewegen zu können?
Walter Kern: Wenn wir weiterhin so zögerlich an den Klima- und Umweltschutz herangehen, wird uns die Natur eines Besseren belehren. Mich beschäftigen insbesondere die zunehmende politische Polarisierung und die sich verschärfenden Ungleichheiten, denn gerade diese führen zu dem besorgniserregenden Stillstand bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen. Wir sollten daher vor allem erkennen, dass nur eine sehr kleine – wenn auch mächtige – Minderheit vom Weiter-So profitiert und deren Teile-und-herrsche-Strategie endlich durchschauen.
Die Occupy-Wall-Street-Bewegung hat es mit ihrem Motto „Wir sind die 99 Prozent“ auf den Punkt gebracht. Nur wenn die große Mehrheit zusammenkommt und an einem Strang zieht, kann sie die Richtung der zukünftigen Entwicklung bestimmen. Selbst Vertreter des einen Prozents, wie der Hedgefonds-Milliardär Ray Dalio, sehen das so. Dazu ein Zitat aus seinem neuesten Buch: „Die größte und wichtigste Kraft ist, wie Menschen miteinander umgehen. Wenn Menschen ihre Probleme und Chancen gemeinsam angehen, anstatt sich gegenseitig zu bekämpfen, können sie die bestmöglichen Ergebnisse erzielen.“
Die Fragen stellte Gesa Vögele.